В.З. Демьянков

О правилах хорошего понимания

Über die Regeln des guten Verstehens·

Valerij Dem’jankov, Moskau

MODUL 1: Gebrauch von Sprachkenntnissen

MODUL 2: Konstruieren und Überprüfen von Hypothesen über den Sinn der Rede

MODUL 3: Erschließung des Gesagten

MODUL 4: Die Rekonstruktion der Sprecherintentionen, der Absichten des Sprechers

MODUL 5: Erkenntnis der Verschiedenheiten

zwischen der inneren Welt des Interpretators und der Modellwelt

MODUL 6: Erkennen der Beziehungen innerhalb der inneren Welt und der Modellwelt

MODUL 7: Bilanz zwischen der Modellwelt und den Kenntnissen des Interpretators

MODUL 8: Herstellen der Beziehungen zwischen dem Verstehen

und anderen Handlungen des Verstehenden

MODUL 9: Die Wahl der Verstehenstonalität

Literatur

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Nach vielen Jahren der Lehrtätigkeit, wenn auch nicht am Anfang, steht jeder Sprachlehrer vor der Frage: was unterrichten wir eigentlich? Was wollen wir von unseren armen Studierenden? Daß sie alle Sprachregeln mit Ausnahmen lernen und endlose Wortlisten auswendig kennen? Oder etwas anderes? Und wozu?

Ich glaube, unser Ziel ist es, die Studierenden zu lehren, eine fremde Kultur zu verstehen und sich in ihr wohl zu fühlen.

Mit Eggebrecht können wir behaupten:

Das Verstehen ist ein Verlangen, ein Aufruf und ein Gebot. Es begründet und ermöglicht, regelt, sichert und beheimatet unser Dasein. Es tilgt am anderen die Fremdheit, macht es uns zugehörig und uns ihm zugewandt. Es prägt die Form, in der wir unser Leben führen und bewältigen in bezug auf alles dasjenige, was uns angeht. (Eggebrecht 1995: 9)

Die Studierenden müssen also auch das Verlangen, den Aufruf und das Gebot haben, die für sie fremden Kulturen zu verstehen. Ein tieferes Verständnis von fremden Kulturen ist natürlich ohne Sprachkenntnisse nicht möglich. Aber auch die Sprachkenntnisse haben ohne Anwendung in der Kommunikation nur einen begrenzten Wert.

Kann man Regeln formulieren, die es gestatten, das Verstehen zu garantieren?

Vor mehreren Jahren habe ich ein Buch über Verständigungsmodellierung in russischer Sprache veröffentlicht, in dem ich eine Übersicht von verschiedenen Theorien des Verstehens gab und eine kognitivistische Sicht anbot (Dem’jankov 1986). Ich habe angenommen und zu zeigen versucht, daß das Verstehen eine komplizierte interpretatorische Prozedur ist. Nach Betrachtung und kritischer Analyse der in der sprachwissenschaftlichen, literaturwissenschaftlichen, psychologischen und philosophischen Literatur vorhandenen Konzeptionen unterscheide ich in jenem Buch mehrere Module des Verstehens.

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Jedes Modul entspricht einer mehr oder weniger elementaren Aufgabe. Das gestattet mir jetzt, einige Regeln des guten Verstehens zu formulieren, die den Regeln des guten Benehmens analogisch sind.

Aber wollen wir zuerst mit der Frage beginnen, was das Verstehen überhaupt ist. Man kann mindestens zwei theoretische Modelle des Verstehens unterscheiden.

Im Transportmodell ist die Verständigung als Sinnübergabe gedeutet, also als Transport des Sinnes vom Sprecher zum Adressaten. Der Sprecher generiert einen Sinn, den er in Worte einpackt, und übergibt ihn dem Adressaten. Der Adressat bekommt einen Sinn, den er sofort für seine Ziele gebrauchen kann. Diese Betrachtungsweise sieht sehr einfach aus, aber sie kann nur schwer erklären, warum wir in den Worten des anderen ab und zu mehr Sinn finden als der Autor selbst. Die Parole der romantischen Hermeneutiker, den Autor besser zu verstehen als er sich selbst, hat bei dieser Betrachtungsweise wenig Sinn.

Das Infizierungsmodell ist mit einer anderen Sicht verbunden. Man stelle sich vor, zwei Menschen sitzen in einem Zimmer. Einer von ihnen hat Schnupfen und niest. Der andere war bisher gesund, aber nach einiger Zeit niest er auch. Nach dem Ansteckungsmodell verstehen wir uns, weil in den Kommunikanten dieselben Prozesse in paralleler Weise stattfinden. Das Verstehen hängt nicht so sehr von den Worten wie von der Persönlichkeit des Interpreten selbst ab. Vgl. z.B:

Verstanden aber ist, streng genommen, nicht der Sinn, sondern das Seiende, bzw. das Sein. Sinn ist das, worin sich Verständlichkeit von etwas hält. Was im verstehenden Erschließen artikulierbar ist, nennen wir Sinn. Der Begriff des Sinnes umfaßt das formale Gerüst dessen, was notwendig zu dem gehört, was verstehende Auslegung artikuliert. Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird. Sofern Verstehen und Auslegung die existenziale Verfassung des Seins des Da ausmachen, muß Sinn als das formal existenziale Gerüst der dem Verstehen zugehörigen Erschloßenheit begriffen werden. (Heidegger 1977: 201)

Ich glaube, die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Das Verstehen ist keine Grippe. Der Sprecher ‚niest‘ die Worte oder andere Handlungen aus, und der andere nimmt sie wahr (und wird nicht bloß von ihnen angesteckt), legt die Rede Quantum für Quantum aus und erst Schritt für Schritt erhält er eine Annäherung

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zum Sinn des Sprechers und des Gesagten. Nach Mones ist Verstehen: „Erfaßen / Erzeugen der durch ein materiales sprachliches Zeichensystem transportierten Bedeutungen“ (Mones 1995: 194). Das Verstehen ist nicht nur das, was uns passiert, sondern vielmehr das, was wir tun, sei es bewußt oder (eher noch) unbewußt. Dabei kann man mit Ruppmann (1995: 27) behaupten:

Das bewußte Verstehen und die Wahrnehmung sind Handlungen, da sie dafür die wesentlichen Voraussetzungen erfüllen: Sie sind aktiv, zielgerichtet und besitzen Handlungsalternativen. (Ruppmann 1995: 27)

Unter den Redequanten meine ich die Spracheinheiten, die unsere Studierenden auszulegen lernen müssen: Morpheme, Wörter, Konstruktionen, Redewendungen usw. Das Verstehen ist ein interpretatorischer Prozeß, bei dem verschiedene Operationen stattfinden, die ich in neun Module gruppiere.

MODUL 1: Gebrauch von Sprachkenntnissen

Wenn man sagt, A. versteht nicht deutsch, meint man gerade dieses Modul als eine thematisierte Aufgabe. Die Kenntnisse einer gemeinsamen Sprache (des Russischen, des Deutschen, des Japanischen usw.), die eine Voraussetzung für jeden Meinungsaustausch sind, variieren von Mensch zu Mensch. Auch verschiedene Sprachquanten spielen verschieden wichtige Rollen für dieses Modul. So meinen manche: „Im Verstehensprozeß eines Satzes spielt das Verb die zentrale Rolle“ (Järventausta 1991: 58; das ist auch die Meinung L. Tesnière’s und vieler Vertreter der Dependenzgrammatik).

Gadamer behauptete:

Jedes Gespräch setzt eine gemeinsame Sprache voraus, oder besser: es bildet eine gemeinsame Sprache heraus. Es ist da etwas in die Mitte niedergelegt, wie die Griechen sagen, an dem die Gesprächspartner teilhaben und worüber sie sich miteinander austauschen. Die Verständigung über eine Sache, die im Gespräch zustande kommen soll, bedeutet daher notwendigerweise, daß im Gespräch eine gemeinsame Sprache erst erarbeitet wird. Das ist nicht ein äußerer Vorgang der Adjustierung von Werkzeugen, ja es ist nicht einmal richtig zu sagen, daß sich die Partner aneinander anpassen, vielmehr geraten sie beide im gelingenden Gespräch unter die Wahrheit der Sache, die sie zu einer neuen Gemeinsamkeit verbindet. Verständigung im Gespräch ist nicht ein bloßes Schauspielen und Durchsetzen des eigenen Standpunktes, sondern eine Verwandlung ins Gemeinsame hin, in der man nicht bleibt, was man war. (Gadamer 1986: 384)

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Dabei versteht er unter der Sprache nicht ganz das, womit wir während unserer Sprachveranstaltungen zu tun haben.

Aber die Worte Gadamers haben auch für uns einen tiefen Sinn. Wenn wir einander wirklich verstehen wollen, dürfen wir nicht vergessen, daß unser Gesprächspartner dieselben Wörter auch ab und zu anders interpretieren kann, als wir. Und das darf er. Man glaube ja nicht, daß man der/die einzige MuttersprachlerIn ist, der/die die Sprache allein richtig kennt.

Die erste Regel des guten Verstehens besteht in dem Rat, die Kenntnisunterschiede zwischen den Gesprächspartnern tolerant wahrzunehmen. Und zwar:

Verhalten Sie sich zu Ihrer Sprachkompetenz kritisch und seien Sie demgegenüber tolerant, was auf den ersten Blick in der Rede des Gesprächspartners wie Abweichung vom Sprachstandard aussieht.

Eine Scheinausnahme ist der Sprachunterricht, wo die Aufgabe des Lehrers darin besteht, die Studierenden auf mögliche oder reale Fehler aufmerksam zu machen. Aber auch im Sprachunterricht besteht die Hauptaufgabe des Lehrers nicht nur darin, die Rede zu verstehen, sondern auch darin, den Studierenden Normen und Konventionen der Rede in einer anderen Sprache zu vermitteln.

MODUL 2: Konstruieren und Überprüfen von Hypothesen über den Sinn der Rede

Wie auch Culler glaube ich, daß das Verstehen der Rede nicht auf das Verstehen der Sprache begrenzt ist:

[...] to understand a work requires more than knowledge of a language. The institution of literature is a repository of conventions and assumptions, expectations and interpretive operations, which enable readers to take up a text, order it, and produce meaning from that ordering. (Culler 1974: 18)

Wenn wir die Rede wirklich verstehen, warten wir nicht, bis ein Satz zu Ende ist: das Verstehen entwickelt sich zeitlich parallel zur Rede. Das macht die Kommunikation flexibel, aber die Wahrnehmung der Rede des anderen komplizierter. Man hat immer nicht nur mit einer, sondern mit mehreren Hypothesen zu tun. Der Sprechende ist immer in Gefahr, etwas nicht rechtzeitig zu sagen, und zwar, zu früh oder zu spät. Dadurch entstehen Mißverständnisse, denen man vorbeugen könnte, hätte der Verstehende schon früher das gewußt, was erst später gesagt wurde. Das adäquate Verstehen ist mit dem Aufbau

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adäquater Hierarchien von konkurrierenden Hypothesen über den Sinn der ganzen Rede verbunden.

Wenn man die Rede in einer Fremdsprache interpretiert, konzentriert man sich gewöhnlich (besonders am Anfang des Studiums) auf jedes Wort, man unterscheidet nicht immer richtig das Wichtige vom Nebensächlichen. Deswegen ist die Zahl der zu verifizierenden Hypothesen beim Anfänger viel größer als beim Experten (geschweige denn beim Muttersprachler).

Deswegen ist auch die folgende Regel wichtig:

Hierarchisieren Sie in Ihrer Interpretation die Redeelemente nach ihrer Rolle und konzentrieren Sie sich auf solche Hypothesen, die mit den wichtigeren Elementen verbunden sind. Dabei versuchen Sie, sich möglichst nüchterne und minimal extravagante Erwartungen darüber zu bilden, was Sie später hören und interpretieren müssen. Das heißt, die Hypothesen darüber, was Ihnen zu hören oder zu lesen bevorsteht, müssen möglichst realistisch sein.

Das gestattet Ihnen, später die nichtverifizierten Hypothesen mit minimalem Verlust aufzugeben.

Für eine gewöhnliche Person ist genau das nicht schwierig. Dabei gilt jedoch: „Jedes eigentliche Verstehen ist neu“ (Kühlewind 1986: 28). Viel schwieriger ist es, wenn der Verstehende intellektuell höher steht als sein Gesprächspartner. So etwa, wenn unser Studierender nach Moskau kommt und einen betrunkenen Passanten nach dem Weg zum Kreml fragt. Dann kann er der Rede solche Tatsachen entnehmen, die der Sprecher auch im nichtbetrunkenen Zustand nicht meinen würde. Eine kreative Person ist auch beim Verstehen kreativ, es kann sogar vorkommen, daß sie zu kreativ ist, was dann das adäquate Verstehen verhindert oder zumindest beeinträchtigt.

MODUL 3: Erschließung des Gesagten

Wenn wir einen Text lesen oder hören, modellieren wir, Schritt für Schritt (Wort für Wort, Satz für Satz usw.) einen momentanen Ausschnitt aus der inneren Welt des Gesprächspartners. Dieser Ausschnitt, also die Modellwelt des Gesagten, mit ihren Gesetzen und ihrer Dynamik, wird uns nicht als ein Ganzes und Vollendetes sofort, in einem Augenblick, auf einmal übergeben. Diese Modellwelt ist überhaupt nicht aus fremden, sondern aus unseren eigenen mentalen Baumaterialien gemacht, d.h. aus den für unsere Mentalität üblichen und zugänglichen Bildern und Vorstellungen. In die Modellwelt investieren wir ein Teil unserer eigenen inneren Welt. Darin besteht gerade die Erschließung der Worte des Gesprächspartners, ohne die eine Verständigung nicht möglich ist. Vgl.:

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[..] verstehen bedeutet: etwas umkodieren, etwas nicht Wort für Wort wie einen auswendig gelernten Text reproduzieren, sondern etwas aus eigenen Mitteln (neu) schaffen. [...] Es gibt [...] verschiedene Arten des Verstehens: [...] Abstraktionsfähigkeit, [...] die kreative Expansion und [...] Applikation [...]. (Raible 1995: 72)

Die nächste Regel lautet deswegen:

Seien Sie großzügig und geben Sie möglichst viele Materialien aus Ihrem eigenen Vorrat heraus.

MODUL 4: Die Rekonstruktion der Sprecherintentionen, der Absichten des Sprechers

Von der Seite des Empfängers her gesehen muß aus den erscheinenden Zeichen verstanden werden, was in der Sprechintention lag. Dieses Verstehen geht weit über das der Worte hinaus, ist immer situations- (Strawson) oder kontext- (Hjelmslev) bedingt: der Empfänger muß „erraten“, was der Sprechende meint. (Kühlewind 1991: 27)

Diese Aufgabe, die Auslegung der Intention, hat für den Hörer/Leser, mindestens zwei Aspekte:

- man legt den wörtlichen Sinn davon aus, was der Autor in seiner Rede meint, dabei ist man sich im klaren, daß der Autor selbst nicht immer bewußt die Sprache gebraucht: der Sprecher kann Sprechfehler machen, sein Wortgebrauch kann nicht immer ganz dem Standard entsprechen, er kann mit starkem Akzent sprechen, aber dennoch verstanden werden;

- man erkennt die eigentlichen und die scheinbaren Absichten des Autors.

Der zweite Aspekt wird nicht von allen Theoretikern akzeptiert:

In den 30er Jahren dieses Jahrhunderts behauptete T. S. Eliot, die Bedeutung eines Textes sei völlig unabhängig von Willen und Absicht seines Verfassers, gute Dichtung sei per definitionem unpersönlich, objektiv und autonom. W. K. Wimsatt behauptete: die Intention des Autors sei ohne Relevanz für den Sinn eines Textes. Gleichzeitig diskreditierte er jeden Versuch, die Absicht eines Autors bei einer Interpretation und Bewertung literarischer Werke zu berücksichtigen, als „intentional fallacy“. In Deutschland propagierte

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M. Heidegger die These der semantischen Autonomie der Sprache, die unabhängig von der Intention des Sprechenden bestehe. Die Verbannung des Autors aus hermeneutischen Überlegungen zugunsten eines Konzepts der semantischen Autonomie von Sprache verkennt jedoch, daß Sinn ausschließlich eine Angelegenheit des kreativen Bewußtseins ist und nicht den Wörtern eignet, die lediglich als Medium zur Weitervermittlung des Sinnes fungieren. (Jost 1990: 28-29).

Und weiter:

Die häufig vertretene Auffassung, ein Autor wisse mitunter selbst nicht oder nur sehr ungenau, welchen Sinn er mit seinem Werk auszudrücken beabsichtige, fußt auf Kants Bemerkung, ein Interpret könne unter besonderen Umständen einen Autor besser verstehen als dieser sich selbst. Diese These ist jedoch dahingehend zu relativieren, daß ein Interpret nicht den vom Autor intendierten Sinn besser verstehen kann, sondern auf Grund einer möglicherweise verbesserten Forschungslage allenfalls den behandelten Gegenstand. (so Hirsch 1967 nach Jost; Jost 1990: 30).

Die Absichten, ihr Alphabet, variieren von Mensch zu Mensch. Auf verschiedene Weise gruppieren und tarnen wir die Absichten in der Kommunikation. Aber wie unendlich verschieden diese Eigenschaften auch sein müssen, so errät man gewöhnlich dennoch erfolgreich diese Absichten; dazu braucht man nur Geduld und Bereitschaft, sich dem Gesprächspartner zu widmen, sei es auch nur auf einen Augenblick. In dieser Hinsicht ist Verstehen der Liebe ähnlich. Im Alltagsleben schenkt man verschiedenen Leuten nicht gleiche Aufmerksamkeit, worin eine weitere Ursache des Mißverständnisses liegt.

Eine weitere Regel des guten Verstehens lautet deswegen:

Streben Sie danach, die Persönlichkeit Ihres Gesprächspartners möglichst gut kennenzulernen.

Ausser einem altruistischen Vergnügen erleichtert das auch Ihre Verständigung, in dem Sinn, daß Sie eher in der Lage sind, die wirklichen Intentionen des anderen zu rekonstruieren.

MODUL 5: Erkenntnis der Verschiedenheiten

zwischen der inneren Welt des Interpretators und der Modellwelt

Untersuchungen zum Verstehen von Nachrichten „beweisen nicht nur, wie wenig tatsächlich verstanden und behalten wird, vielmehr wird deutlich, daß nur verstanden werden kann, was

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irgendeinen Bezug zur eigenen Erlebniswelt besitzt. Hörer und Hörerinnen können also nur mit jenen Meldungen etwas anfangen, die in ihr Wissen, ihre Erfahrung und ihr Weltbild hineinpassen“ (Wodak, Menz, Lalouschek 1989: 32-33).

Wie auch unsere innere Welt bildet die Modellwelt ein Ganzes, dessen Gesetze von denen unserer inneren Welt quasi verschieden sind. Die Mißverständnisse wurzeln unter anderem darin, daß wir aus Unerfahrenheit, Unaufmerksamkeit oder Zerstreutheit unsere innere Welt der Modellwelt gleichsetzen.

Daraus folgt die fünfte Regel:

Seien Sie besonders bei denjenigen Episoden der Rede aufmerksam und tolerant, wo die Einheitlichkeit und Kohärenz des von Ihnen erhaltenen Bildes verletzt zu sein scheinen; denn diese Verletzungen können unter anderem auch nur unserer Modellwelt eigen sein, die inadäquat diejenigen (an sich sonst logisch kohärenten) Bilder widerspiegelt, die man uns vermitteln wollte.

MODUL 6: Erkennen der Beziehungen innerhalb der inneren Welt und der Modellwelt

Hier handelt es sich um das Erkennen der inneren Beziehungen zwischen verschiedenen Ereignissen in der Rede des Gesprächspartners, unter anderem in der Argumentation. Im Laufe der Interaktion bleibt unsere Aufmerksamkeit inkonstant: was am Anfang im Fokus der Aufmerksamkeit lag, kann später in den Hintergrund rücken, um gelegentlich später wieder im Fokus aufzutauchen, wenn auch anders beleuchtet. Diese Schwankungen entsprechen der Tätigkeit unseres Bewußtseins, bei dem Beziehungen zwischen verschiedenen Fragmenten der zu rekonstruierenden Welt hergestellt werden. Dabei gilt: „Die Integration textexterner Daten erfolgt prinzipiell über Bedeutungsbeziehungen (Regel der Semantisierung der Textexterna)“ (Pasternack 1979: 100).

Die sechste Regel, die die Gültigkeit der Regel 3 begrenzt, lautet:

Versuchen Sie sich darauf zu konzentrieren, was auch der Gesprächspartner im Fokus hält; konstatieren Sie auch bei sich die Fokusverschiebungen und konzentrieren Sie sich nicht auf Ihre Lieblingsmeinungen; versuchen Sie nicht, Ihre Lieblingsgedanken unbedingt auch bei Ihrem Gesprächspartner zu finden. Aber schließen Sie auch nicht die Möglichkeit aus, diesen Gedanken in der Modellwelt zu begegnen.

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MODUL 7: Bilanz zwischen der Modellwelt und den Kenntnissen des Interpretators

Verstehen bedeutet unter anderem auch die Vervollkommnung der mentalen Data-Base, in die wir neue Informationen eintragen und aus der wir kompromittierte, widerlegte Erkenntnisse und Meinungen entfernen. Dadurch unterscheidet sich das Textverstehen vom Parsing (recognition) des Textes. Vgl.:

Verstehen (im Unterschied von Erklären) erstreckt sich auf geistige Sachverhalte und schließt unmittelbares Evidenzbewußtsein in sich. Dieses ist nur möglich bei potentieller Produktivität in der Richtung des zu Verstehenden, sei es einer Handlung, eines Gedankens, einer künstlerischen Komposition. Verstehen heißt, irgendwie schöpferisch sein; dabei kommt alles technische Können nicht in Betracht. Gegenstand des Verstehens soll hier das Dasein selbst, d.h. in seiner Einheit sein; denn nur aus der Einheit heraus wird verstanden. (Bonhoeffer 1931: 24)

Wenn man einen Text versteht, wird man informationell reicher, wenn auch die Zahl der widerlegten Meinungen größer ist, als die Zahl der neu eingetragenen Informationen. So kann z.B. eine Episode, die unsere Kenntnisse nicht beeinträchtigt, d.h. nichts Neues über die Umwelt oder Meinungen unserer Gesprächspartner hinzufügt, ohne Verlust aus unserem Leben gestrichen werden.

Die nächste Regel lautet:

Wenn Sie sich im Laufe der Interaktion nicht klüger fühlen, versuchen Sie zuerst, die Ursache herauszufinden. Das kann etwa Ihre Schläfrigkeit oder etwa Übereinstimmung mit Ihrem Gesprächspartner sein (im letzteren Fall empfindet man aber gewöhnlich eher positive Emotionen), das Thema kann Ihnen auch uninteressant erscheinen (z.B. sind Sie für das Gespräch auch rein informationell nicht genügend vorbereitet) usw.

Erst nach dieser Analyse sollten Sie überprüfen, ob und wie Sie Ihre Data-Base modifizieren müssen.

MODUL 8: Herstellen der Beziehungen zwischen dem Verstehen

und anderen Handlungen des Verstehenden

Dilthey sagte einmal: „Unser Handeln setzt das Verstehen anderer Personen überall voraus“ (Dilthey 1957: 317). Ich glaube, die Wirkung der Rede erinnert an Hypnose. Sie hören z.B. den Satz: „Am Waldessaume träumt die Föhre, am Himmel weiße Wölkchen nur“ - und wenn

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Sie besonders sensibel sind, dann sehen Sie sofort die Föhre, den Himmel, die Wolken. Das ist aber nur eine der vielen Möglichkeiten, beim Verstehen parallel zu handeln.

In der Sprachphilosophie des zwanzigsten Jahrhunderts wird das Verstehen oft der Antwort, der Reaktion auf das Gesagte gleichgesetzt (z.B. L. Wittgenstein und M. Bachtin). Vgl. z.B.:

Für Gadamer zeigt sich, daß jede Aussage qua verstandene eine Antwort auf eine Frage ist. Das Verstehen einer Antwort hängt unmittelbar mit dem Verständnis der Frage, auf die sie antwortet, zusammen. Verständiges ist nur im Horizont von Vorverstandenem möglich. Ethik als Hermeneutik klärt daher den Fragehorizont, in welchem menschliche Sittlichkeit erst vollumfänglich verständlich wird. Sie ist damit das Zurückfragen nach jener Frage, auf die die Sittlichkeit die Antwort ist. (Schmid 1995: 1-2)

Die Suche nach Kriterien des Verstehens basiert übrigens auf dieser Präsumption. Zu diesen Kriterien zählen (vgl. Schäflein-Armbruster 1994: 503) unter anderem die Fähigkeiten:

- eine Anweisung auszuführen

- einen Text sinnvoll fortzusetzen

- Widersprüche aufzuzeigen

- eine fehlerhafte Anweisung zu korrigieren

- eine Zusammenfassung zu geben

- eine gegebene Zusammenfassung als richtig oder falsch zu erkennen

- das Thema der Äußerung / des Textes anzugeben

- eine Paraphrase in eigenen Worten zu geben.

Diese dialogische Konzeption des Verstehens ist zum großen Teil berechtigt. Ein Symptom des Verstehens ist auch die Bereitschaft zu Handlungen, die direkt oder indirekt (angespielt) in der Rede beschrieben werden. Die natürliche sprachliche Rede ist in dieser Hinsicht der Interpretation des Textes eines Computerprogramms in einer Programmiersprache ähnlich (wobei Interpretation im Sinne der theoretischen Programmierung verstanden sein muß): das Verstehen der Rede (wie auch des Programmtextes) wird von den Handlungen des Computers begleitet, die das Programm vorschreibt.

Die ethischen Normen der Kommunikation sind eher auf den Sprecher gerichtet: drängen Sie Ihre Meinungen dem Hörer nicht auf. Aber wir können eine entsprechende Norm auch für den Zuhörer formulieren:

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Verlassen Sie sich auf den Sprecher, lassen Sie sich hypnotisieren. Glauben Sie nicht, daß Ihre Auslegungsweise die letzte Wahrheit ist.

MODUL 9: Die Wahl der Verstehenstonalität

Weil das Verstehen ein Ergebnis von verschiedenen Operationen ist, die die obengenannten Aufgaben lösen, muß man immer einen Schlüssel wählen, in dem die Rede in ihrem Ganzen wahrzunehmen ist. Dieser Schlüssel determiniert die Abwechslung solcher Operationen im Laufe einheitlicher Verständigungsepisoden. So empfinden wir z.B. während verschiedener Gesprächsepisoden verschiedene Grade der Sympathie zum Gesprächspartner und zu seinen Meinungen; verschieden aufmerksam verfolgen wir auch die Fokussierungen in seiner Rede usw.

Man kann hier über eine bestimmte Gesprächsatmosphäre sprechen (vgl. Glindermann 1987: 2). Mit Hundsnurscher (1994: 221-223) können wir z.B. folgende zwei große Klassen von Dialogen unterscheiden:

1. Dialoge „mit konvergentem Verständigungsinteresse: Es gibt bei konvergenter Interessenlage Dialoge, bei denen das kommunikative Interesse unausgewogen ist, und solche, bei denen es (einigermaßen) ausgewogen ist“ und zwar:

1.1. „suppletive (Auskunftsdialoge, Belehrungsdialoge und Beratungsdialoge; sie sind dadurch charakterisiert, daß der eine Partner zur Erreichung seines kommunikativen Handlungsziels in hohem Maße auf die Hilfe des anderen angewiesen ist; die Handlungsmöglichkeiten sind ungleich verteilt - der eine möchte etwas erfahren, der andere kann es ihm sagen und tut es auch)“ und

1.2. „kontributive Dialoge (z.B. Planungsdialoge, Beratschlagungsdialog und Meinungsaustauschdialoge, wo beide Partner ein gemeinsames Ziel anstreben und beide in etwa gleichermaßen in der Lage sind, zur Erreichung des kommunikativen Handlungsziels beizutragen; beide sind gemeinsam an der Erarbeitung eines Plans, einer Handlungsentscheidung, einer einheitlichen Lageeinschätzung usw. interessiert)“;

2. Dialoge mit „divergentem Verständigungsinteresse“, z.B. folgender Fall: „Beide Partner haben ihren eigenen Vorteil im Auge, sind aber zur Wahrung ihrer eigenen Interessen gezwungen, mit Hilfe von modifizierten Vorschlägen und Gegenvorschlägen einen für beide Seiten tragbaren Kompromiß

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anzusteuern. Wenn jeder auf der Erfüllung seiner Vorstellungen ohne Abstriche beharrt, kommt kein Abschluß zustande; der Gesprächszweck wird verfehlt.)“ (ibid).

Diese Klassen entsprechen auch verschiedenen Tonalitäten des Verstehens.

Einem nichtkonfrontierenden Dialog entspricht z.B. eine Tonalität des Verstehens, die sich von der Tonalität des konfrontierenden Dialogs unterscheidet. Aber weil besonders produktiv eben eine nichtkonfrontierende Verständigungsweise ist, formuliere ich die neunte Regel wie folgt:

Empfinden Sie selbst gute Gefühle zum Sprecher und nehmen Sie an, daß auch der Sprecher in Ihrem Interesse spricht.

* * * * * * * * *

Aber wir dürfen nicht vergessen, daß alle erwähnten Aufgaben, die Module des Verstehens, nicht immer vollkommen erfüllt werden. So Jaspers:

[...] in all dem, wodurch der bestimmte endliche Sinn für uns erst seinen eigentlichen Sinn gewinnt, da ist Mißverstehen unablösbar vom Verstehen. (Jaspers 1947: 553-554)

Ich glaube, wenn wir zwischen den 9 Modulen unterscheiden, können wir auch die Menge der möglichen Mißverständnisse klassifizieren. Aber das ist bereits ein anderes Thema.


Literatur

Bonhoeffer 1931

D. Bonhoeffer: Akt und Sein: Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie. Gütersloh 1931.

Culler 1974

J. Culler: Flaubert: The uses of uncertainty. Ithaca (N.Y.) 1974.

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Dem’jankov 1989

В.З. ДЕМЬЯНКОВ: Интерптерация, понимание и лингвистические аспекты их моделирования на ЭВМ. Москва 1989.

Dilthey 1957

W. Dilthey: „Die Entstehung der Hermeneutik“. Ders.: Die geistige Welt: Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften. Bd.5. Stuttgart 1957, 317-338.

Eggebrecht 1995

H. H. Eggebrecht: Musik verstehen. München Zürich 1995.

Gadamer 1986

H.-G. Gadamer: Hermeneutik I: Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 5. veränd. Auflage. Tübingen 1986.

Glindermann 1987

R. Glindermann: Zusammensprechen in Gesprächen: Aspekte einer konsonanztheoretischen Pragmatik. Tübingen 1987.

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M. Heidegger: Sein und Zeit. Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914-1970. Bd. 2. Franfurt am Main 1977.

Hirsch 1967

E. D. Jr. Hirsch: Validity in interpretation. New Haven 1967.

Hundsnurscher 1994

F. Hundsnurscher: „Dialog-Typologie“. G. Fritz, F. Hundsnurscher (Hrsg.): Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen 1994, 203-238.

Järventausta 1991

M. Järventausta: Das Subjekt im Deutschen und im Finnischen: Seine Formen und semantischen Rollen. Frankfurt am Main 1991.

Jaspers 1947

K. Jaspers: Von der Wahrheit. Philosophische Logik 1.Bd. München 1947.

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Ch. Jost: Das Ich als Symbol: Überlegungen zum Kunstcharakter von Goethes kleineren autobiographischen Schriften. Frankfurt am Main 1990.

Kühlewind 1986

G. Kühlewind: Die Logosstruktur der Welt: Sprache als Modell der Wirklichkeit. Stuttgart 1986.

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Kühlewind 1991

G. Kühlewind: Der sprechende Mensch: Ein Menschenbild aufgrund des Sprachphänomens. Frankfurt am Main 1991.

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A. Mones: „Text ¹ Text oder: Die Sprengung des hermeneutischen Zirkels“. P. Janssen et al. (Hrsg.): Philosophie der UnVerbindlichkeit: Einführungen in ein ausstehendes Denken. Würzburg 1995, 194-224.

Pasternack 1979

G. Pasternack: Interpretation. München 1979.

Raible 1995

W. Raible: „Arten des Kommentierens - Arten der Sinnbildung - Arten des Verstehens: Spielarten der generischen Intertextualität“. J. Assmann, B. Gladigow (Hrsg.): Text und Kommentar: Archäologie der literarischen Kommunikation. München 1995, 51-73.

Ruppmann 1995

K. Ruppmann: Gespaltene Aufmerksamkeit: Rezeptive Präferenzen bei der Wahrnehmung von Bild-Schrift-Kombinationen im Fernsehen: Eine empirische Studie. Münster 1995.

Schäflein-Armbruster 1994

R. Schäflein-Armbruster: „Dialoganalyse und Verständlichkeit“. G. Fritz, F. Hundsnurscher (Hrsg.): Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen 1994, 493-517.

Schmid 1995

P. A. Schmid: Ethik als Hermeneutik: Systematische Untersuchungen zu Hermann Cohens Rechts- und Tugendlehre. Würzburg 1995.

Wodak, Menz, Lalouschek 1989

R. Wodak, F. Menz, J. Lalouschek: Sprachbarrieren: Die Verständigungskrise der Gesellschaft. Wien 1989.


· Электронная версия статьи: Dem’jankov V. Über die Regeln des guten Verstehens // Porta Slavica: Beiträge zur slavischen Sprach- und Literaturwissenschaft. Wilma Woesler zum 65. Geburtstag / Hrsg. von B.Althaus, F.Kluge und H. Stahl-Schwaetzer. Wiesbaden: Harrassowitz, 1999. (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund; Bd.25). S.71-84.